Hat magische Anziehungskraft: der Rote Platz in Moskau Foto: pixabay/Michael Siebert
Wer das neue Antlitz Moskaus erblicken möchte, der geht in einem Park mitten im Zentrum ans Ufer der Moskwa. Zwischen frisch gepflanzten Bäumen, kunstvoll arrangierten Holzelementen und einem Konzertsaal fühlt man sich wie in einer gigantischen Freiluft-Wellnessanlage. Eine schwebende Brücke wurde über den Fluss gebaut. Sie führt nirgendwohin, man geht einfach hinüber und wieder zurück und denkt: schön. Beruhigend.
So hat man sich diese Großstadt, in der offiziell 15 Millionen Einwohner leben (niemand weiß es so genau, wahrscheinlich sind es viele, viele mehr), gar nicht vorgestellt. Der Sarjadje-Park ist ein 10,2 Hektar großer Landschaftspark, der unter jungen Russen seit seiner Eröffnung vor wenigen Monaten schnell zu einem Hotspot wurde. Einer Umfrage zufolge geben ihn die meisten Jugendlichen als „Lieblingsort für aushäusigen Sex“ an, was an diesem verregneten Nachmittag und bei Temperaturen knapp über null etwas abwegig erscheint, doch der Sommer war auch hier heiß, da kommt man schon mal auf Ideen. Für ungewöhnliche Umfragen beispielsweise, aber der Park an sich verkörpert eben das Ungewöhnliche. Entworfen wurde er von einem amerikanischen Architektenbüro. Das muss man sich einmal vorstellen! Die Amis durften direkt neben dem Roten Platz ihre Bagger auffahren. Es wurde heftig diskutiert, ob der alte Feind an einem so prominenten Ort das Sagen haben dürfe. Aber er durfte. Zum Dank oder auch einfach nur aufgrund seiner Schönheit hat das „Time Magazine“ den Sarjadje-Park 2018 in die Liste der World’s Greatest Places To Visit aufgenommen.
Nagelneue Wegweiser geben die Richtung vor zum Kreml, auch das ist ungewöhnlich, denn diese Schilder können Touristen lesen. Erst seit der Weltmeisterschaft stehen englische Bezeichnungen unter der kyrillischen Schrift; durch den Fußball hielt das Internationale Einzug in die Stadt. „Die Spiele haben vieles verändert. Ihr denkt jetzt ein wenig anders über uns, und wir denken vor allem auch anders über euch. Viele Russen hatten zuvor niemals Ausländer getroffen“, sagt Vladimir Vashchenko. Der Journalist weist bei einem Spaziergang durch das historische Zentrum auf Dinge hin, die man selbst als nicht so weltbewegend ansehen würde, doch für die Moskauer stellen sie Verbesserungen dar.
Wir könnten uns den Kreml ansehen, das Lenin-Mausoleum oder die berühmte Basilius-Kathedrale mit den wunderschönen Türmen, die aussehen wie direkt aus Walt Disneys Zeichenblock entsprungen. Doch Vashchenko zeigt auf Zebrastreifen. Hätten sie zuvor kaum gehabt, auch die Gehwege seien verbreitert worden: „Moskau ist nun endlich eine Stadt für Spaziergänger.“ Vashchenko weiß alles über das Auferstehungstor am Eingang des Roten Platzes und das berühmte Kaufhaus GUM, durch beides sollte jeder Reisende wirklich einmal schlendern. Doch so richtig begeistert klingen seine Erzählungen, wenn wir Busspuren und Sicherheitskameras entdecken. Moskaus Verkehr glich viele Jahre lang einer Katastrophe. Stockendes Vorankommen war das Bestmögliche, was Autofahrern passieren konnte. Nun dürfen Busse eine extra Spur benutzen, es gibt – bislang ziemlich verwaiste – Radwege, Car-Sharing-Stationen, und die Kameras helfen dabei, Verkehrssünder zu schnappen. „Sonst fuhr jeder, wie er wollte“, sagt Vashchenko, der früher einmal Polizist war und deshalb weiß, dass viele Minister mit Blaulicht durch die Stadt düsten, um den ewigen Stau zu umgehen.
Doch diese Sonderrechte wurden abgeschafft. „Tatütata!“ macht fortan nur noch die Polizei, und selbst die habe sich erneuert. „Es gleicht einer Revolution, dass die Beamten nun freundlich Fragen von Touristen beantworten und teilweise sogar Englisch sprechen“, sagt der Ex-Beamte. Auch die Sicherheitslage für Ausländer sei so gut wie nie zuvor. Tatsächlich fühlt man sich nachts auf dem Roten Platz, der im Dunkeln einfach am schönsten wirkt, so unbedroht wie Putin, wenn Angela Merkel durchs Telefon schimpft. Vom Platz aus sieht man die Fenster seiner Residenz im Kreml. Angeblich hat Russlands oberster Boss einen Hubschrauberlandeplatz anlegen lassen (auf die Busspuren scheint er sich nicht verlassen zu wollen), doch sein Hubschrauber ist zu groß, um vom Kreml aus starten und landen zu können. Die umliegenden historischen Gebäude würden beschädigt. „So ein Pech für ihn“, sagt Vladimir Vashchenko, der für die russische Nachrichtenagentur TASS tätig ist und seine Arbeit als „nicht ganz so unabhängig“ bezeichnet. Mehr will er dazu öffentlich nicht sagen. Die Einschränkungen erklären sich aber leicht: Würde Vashchenko einen negativen Kommentar über Putin schreiben, hätte er zwar persönlich keinen Nachteil – sein Text würde aber nie gedruckt.
Von der persönlichen zurück zur allgemeinen Sicherheit: In den 90er-Jahren erschossen sich die Leute in der Moskauer Innenstadt mitten auf der Straße. Einmal warf ein Mörder seine Waffe bei der Flucht in den Fluss. Als man danach tauchte, fand man nicht nur seine Pistole, sondern gleich zwei weitere. Heute gehen die Leute einen 300 Meter langen Umweg, um ihre Zigarettenkippen artig in einem Mülleimer zu entsorgen. Moskaus Zentrum wirkt wie geleckt. Man könnte vom Boden essen, doch es gibt glücklicherweise viele gute Restaurants.
Eine solche Auswahl an guten Lokalen sei vor fünf Jahren noch undenkbar gewesen, erzählt die Restaurantkritikerin Elena Polyakova. Wir treffen die 32-Jährige in der Megobari Wine Bar von George, einem Georgier, der uns am Abend eine Lehrstunde in russischer Geselligkeit erteilt. Der erste Toast gehört dem Frieden („Za mir“), der zweite dem Gast, drittens stoßen wir auf unsere Eltern an, viertens auf unsere Heimat – und so weiter. George hält sein Glas immer niedriger als die anderen, das gehört sich so, und auch der Inhalt der Gläser hat sich weiterentwickelt. Goodbye Wodka. Hello Wein! Georgische Weine sind im Trend, sagt Polyakova, die teilweise drei Restaurants pro Tag besucht: „Moskaus Gastronomiemarkt ist einer der interessantesten der Welt. Ständig in Veränderung.“
Für Touristen aus dem Westen sind die Speisen bezahlbar, Besucher aus dem Rest Russlands sehen das anders, aber Moskau stellt eben einen Sonderfall in diesem gigantischen Land dar. Moskauer verdienen mehr und haben weniger Zeit als die Bevölkerung außerhalb der Hauptstadt, deshalb gehen sie viel aus. Die Läden sind ab mittags ständig gefüllt. Man wundert sich, wie überhaupt so viel Verkehr auf den Straßen herrschen kann, weil gefühlt alle an Tischen voller Teigtaschen oder Borschtsch sitzen. Doch egal, was man bestellt hat, es gehört immer ein Töpfchen weißer Creme dazu. „Sourcreme ist unser Olivenöl“, sagt Elena Polyakova. Olivenöl gibt es nicht, womit wir beim wunden Punkt der Gastronomie wären: den Sanktionen.
Seit der Annexion der Krim dürfen die Russen viele Produkte nicht mehr importieren. „Auf einmal gab es zum Beispiel keinen Käse mehr aus Italien und Frankreich. Betreiben Sie mal ein italienisches Restaurant ohne Parmesan“, sagt Polyakova. Touristen werden ausländische Zutaten vielleicht manchmal noch bekommen, doch es handelt sich dabei um Schmuggelware, was sich wenig günstig auf die Rechnung auswirkt.
Doch die Sanktionen hatten auch einen positiven Effekt. Plötzlich entstanden überall Farmen und kleine Unternehmen, die fehlende Produkte nun selbst anbauen. „Früher haben wir alles nur von außen eingekauft. Durch das Sowjetregime ging die russische Küche fast verloren, alles war eins. Jetzt gibt es ukrainische, georgische oder kaukasische Küche, wir lernen jeden Tag dazu. Wir bekommen sogar schon fast ganz guten Camembert hin“, sagt die Food-Expertin. Menschen wie Polyakova und Vashchenko stehen für eine neue Generation von Russen, die in ihrer Heimat etwas verändern wollen.
Es gibt natürlich auch noch die alte Generation, die Konservativen, die Charme gegenüber Fremden als überflüssig erachten. Wer sie treffen will, der geht ins berühmteste Theater Russlands, einer Institution, die längst zur Legende geworden ist und daher eigentlich auch gar nicht anders kann, als das Alte zu bewahren. Sie muss es geradezu, denn in einer vom Wandel geprägten Stadt wie Moskau braucht es Orte der Beständigkeit wie das Bolschoi-Theater. Seit zwei Jahrhunderten verzaubert es die Menschen. Die Vorstellungen des Balletts sind Monate vorher ausgebucht.
Wer als Ausländer eine der begehrten Eintrittskarten ergattert hat, der steht gleich vor der nächsten Hürde: den Einlass- und Platzanweiserinnen. In scharfem Russisch machen sie klar, dass sie einem nicht helfen können oder wollen. Auf den Tickets und im Gebäude stehen alle Informationen nur auf Russisch, weder Rang noch Platz erschließt sich dem Fremden. Doch so lernt man das Gebäude, das von 2005 bis 2011 für eine Milliarde Euro renoviert wurde, in allen Ecken kennen. Überall Purpur und Gold, Dekadenz und der Glanz der Geschichte. Aus jedem Saal ruft es: „So waren wir!“ Korrekt müsste es heißen: So waren wenige von uns. Die Masse bekam eine Primaballerina im Leben nicht zu sehen.
Da geht es heute viel gerechter zu. Die billigsten Stehplätze ganz oben sind für Studenten ab etwa acht Euro zu bekommen. 1.800 Menschen können im Zuschauerraum sitzen, einige von ihnen in Logen, die jeden zur Prinzessin machen. Über allem schwebt ein mehr als zwei Tonnen schwerer Kronleuchter. Muss man das gesehen haben? Ja, unbedingt. Aber wenn Sie wieder rauskommen aus dem Bolschoi, dann achten Sie bitte auch auf den wunderschönen Zebrastreifen vor dem Theater. Das Alte und das Neue: so nah beieinander wie zwei Tänzer.
Für die Einreise nach Russland benötigst du ein Visum. Am besten beantragst du es früh, weil es teurer wird, je näher der Abreisetag rückt. Infos zur Beantragung findest du hier:
Yvonne Weiß
Die GLOBISTA-Autorin Yvonne Weiß ist Chefreporterin beim Hamburger Abendblatt, und da Hamburg als Tor zur Welt gilt, geht sie sehr häufig hindurch und auf Reisen.