Wunderschöne alte Bäume prägen die Parks und Straßen von Georgia Foto: GDEcD
Als man 1979 Ray Charles’ Version des Jazz-Standards „Georgia On My Mind“ zur Staatshymne erklärte, zeigte sich der Sänger stolz und geschmeichelt: „Das hat mich wirklich berührt. Hier ist ein Bundesstaat, der Leute wie mich gelyncht hat, der plötzlich meine Version des Songs zum Staatslied erklärt.“ Schwarz und Weiß, das ist in den USA fast schon eine unendliche Geschichte. In diesem Jahr wurde man häufig daran erinnert, denn vor 50 Jahren wurde Martin Luther King ermordet. 14 US-Bundesstaaten haben sich zusammengetan und den „Civil Rights Trail“ aus der Taufe gehoben, der an wichtige Schauplätze der Bürgerrechtsbewegung erinnert. Mit dabei ist auch Georgia, der letzte Bundesstaat, in dem 1798 Sklavenhandel verboten wurde, aber nicht der Einsatz von Sklaven. Erst 1967 wurde dort das Verbot für „Mischehen“ aufgehoben. Die Rassenproblematik ist bis heute aktuell, man denke nur an Polizeigewalt gegen Schwarze oder die Protestbewegung Black Lives Matter. Nun versucht man in Georgia in einer Mischung aus Geschichtsbewusstsein und Geschäftstüchtigkeit die Entwicklung der Bürgerrechtsbewegung US-Bürgern und Touristen nahezubringen. Eine Reise auf dem Trail durch den Bundesstaat im Südosten unterstreicht dessen Vielfalt.
Tom Houck ist ein Original. Der 70-Jährige kennt sich in Atlanta bestens aus und zeigt das bei einer Busrundfahrt durch Georgias Hauptstadt, der „Civil Rights Tour“. Die Personen und Ereignisse der US-Bürgerrechtsbewegung lassen Houck nicht mehr los. Das liegt an einer Begegnung aus dem Jahr 1965. Man warf ihn damals in Florida aus der Highschool, weil er an einem der Selma-nach-Montgomery-Märsche teilgenommen hatte, auf denen Schwarze für ihre Rechte demonstrierten.
Houck zog nach Atlanta, um der Bürgerrechtsbewegung bei der Registrierung schwarzer Wähler zu helfen. Als er vor dem Büro auf eine Mitfahrgelegenheit wartete, sprach ihn ein Schwarzer an und lud ihn zum Essen zu sich nach Hause ein: Es war Martin Luther King. „So etwas war ich nicht gewöhnt“, sagte Houck und erinnert sich noch genau, was es bei den Kings an diesem Sonntag zu essen gab: gebratenes Huhn, Schinken, Gemüse, Coleslaw, Maisbrot und gesüßten Tee. Später beklagte Coretta King, dass ihr Mann einen Fahrer benötige. Houck bekam den Job, wurde auch Assistent des Friedensnobelpreisträgers.
Ein Weißer, der als Chauffeur für eine schwarze Familie arbeitet – das war in den 60er-Jahren sehr ungewöhnlich. Die Konstellation brachte Houck seinen Spitznamen ein. Man nennt ihn ironischerweise „Onkel Tom“, denn in Harriet Beecher Stowes Roman „Onkel Toms Hütte“ ist die Titelfigur ein schwarzer Sklave, der unter weißen Rassisten leidet.
Die Auburn Avenue in Atlanta ist voller Erinnerungen an King. Hier stehen sein -Elternhaus und die Ebenezer Baptist Church, wo Vater und Sohn predigten. In der Kirche wurde 1974 aber auch Alberta, Mutter von Martin Luther jr., beim Orgelspielen erschossen. Nebenan ist das prächtige King Center, in dem der Bürgerrechtler und seine Frau Coretta ihre letzte Ruhestätte fanden. Der kleine Martin sang im Kirchenchor, den sein Vater leitete. Kurz vor der Premiere des wohl bekanntesten Films über Georgia, „Vom Winde verweht“, bekam King senior die Anfrage, ob er nicht bei dieser Gelegenheit mit seinem Chor vorbeischauen könnte. So kam es, dass der spätere Bürgerrechtler vorübergehend zum Chorknaben Hollywoods wurde. Man bekommt auch auf dieser Tour musikalische Eindrücke geboten. Houck hat die schwarze Gospel-Sängerin Eartha Sims mitgebracht, die mit den Tour-Teilnehmern Songs anstimmt wie „Go Tell It On The Mountain“, „Amazing Grace“ oder „We Shall Overcome“. Die Schwarzen kennen die Texte und Melodien besser und singen die weißen Teilnehmer an die Wand. In den 60ern durften Schwarze in Bussen nicht vorn sitzen und mussten für Weiße sogar ihre Plätze räumen. In unserem singenden Bus ist das natürlich kein Thema mehr – und die Weißen sitzen hinten. Das Fahrzeug stoppt vor dem Haus mit der Adresse 234 Sunset Boulevard, dem letzten Heim von Ehepaar King. Coretta King erfuhr hier 1968 von der Ermordung ihres Ehemanns. „Harry Belafonte und Robert Kennedy kamen zum Kondolieren. Es gab einen Skandal, weil der Senator von Georgia bei der Beerdigung die Flagge nicht auf Halbmast setzen ließ. Coretta hat hier noch bis 2002 gelebt. Dann hat ihr Oprah Winfrey eine neue Wohnung gekauft“, erinnert sich Houck.
Bekannt geworden war Martin Luther King auch durch den „Marsch auf Washington“ 1963. Den Demonstranten ging es damals um Arbeit und Freiheit. Im März 2018 gab es eine Neuauflage. Beim „Marsch für unsere Leben“ wurde für eine Verschärfung der laxen Waffengesetze in den USA protestiert. Mit dabei war auch die neun Jahre alte Enkelin des Bürgerrechtlers, Yolanda Renee King. Auch sie habe einen Traum, sagte sie in Anspielung auf die berühmte Rede ihres Opas. „Dies sollte eine Welt ohne Waffen sein.“
Atlanta hat nur knapp eine halbe Million Einwohner. Trotzdem ist die größte Stadt des Bundesstaates eine Metropole von Bedeutung. Der Nachrichtensender CNN hat hier seinen Sitz, die Coca Cola Company, der Paketzusteller UPS und die Fluggesellschaft Delta Air Lines ebenfalls. 1996 war die Stadt Schauplatz der Olympischen Spiele. Im vergangenen Jahr wurde dort das Mercedes-Benz-Stadion eröffnet, das mehr als 70.000 Zuschauer fasst. Ein sehr gelungenes Plädoyer für die Menschenrechte und gegen Diskriminierungen in der ganzen Welt stellt das Center for Civil and Human Rights dar, das daran erinnert, wie allgegenwärtig der Kampf dafür noch heute ist.
Weitaus beschaulicher geht es in Savannah zu. Das Stadtbild wird von viel Grün geprägt. Von den Ästen herab hängt vielerorts wie Lametta ein botanisches Wahrzeichen der Gegend: Spanish Moss. Die im Deutschen auch „Feenhaar“ genannten graugrünen Tillandsien geben den Bäumen ein geheimnisvoll-versponnenes Aussehen.
Kennenlernen kann man Savannah beim geführten Spaziergang. Vaughnette Goode Walker bietet die „Footprints of Savannah“-Tour zu Punkten der bewegten Geschichte an. Sie ist auch selbst eine Sehenswürdigkeit: groß und schlank, Dreadlocks, ein langer Schal und ein großer Holzstab wie ein afrikanischer Stammeshäuptling. Sie beginnt die Tour an einem der für Savannah charakteristischen 24 oft baumumstandenen Plätze mit einem Ruf an die Vorfahren. Dann erzählt sie, dass die Siedler ursprünglich Seide anbauen wollten, es wurde aber Baumwolle, Indigo und Erdnüsse.
Der Weg führt auch vorbei am Pirate’s House, einer alten Seemannskneipe. An der Wand hängen einige Seiten aus einer frühen Ausgabe der „Schatzinsel“. Der britische Autor Robert Louis Stevenson war in dem Etablissement zu Gast und lässt dort einige Ereignisse spielen: Piratenkapitän John Flint trank dort angeblich seinen letzten Rum. Jetzt soll sein Geist dort spuken. Aberglaube scheint in dem Südstaat recht weit verbreitet zu sein. Immer wieder kommt man an Sehenswürdigkeiten vorbei, in denen angeblich Geister ihr Unwesen treiben.
Ansonsten ist Savannah eine sehr erdverbundene, hübsche Stadt, die jährlich von mehr als 14 Millionen Touristen besucht wird. Schon im Frühjahr kann es dort
30 Grad warm werden, das Wetter ist oft drückend schwül. Drei Hurrikans haben die älteste Stadt Georgias in jüngster Zeit heimgesucht.
Die Szenerie ändert sich deutlich, wenn man die Stadt in Richtung Süden verlässt und zum Pin Point Heritage Museum fährt. Dort fließt der Moon River, den man aus dem Titelsong des Films „Frühstück bei Tiffany“ kennt. Seit fast 100 Jahren lebt dort die afroamerikanische Gemeinschaft der Gullah Geechee. Man hat sie ursprünglich nach Amerika geholt, weil sie sich mit dem Reisanbau auskannten. In Pin Point lebten sie vom Krebs- und Muschelfang und deren Verarbeitung.
Herman „Hanif“ Haines zeigt uns die Gebäude der kleinen, 1920 erbauten Fabrik, erklärt die Arbeitsweise und wie man mit Hähnchenfleisch als Köder Krebse fängt. Die Schalen der Austern hat man erst verbrannt, dann zermahlen. Das so entstandene „Tabby“ wurde mit Sand und Wasser vermischt und als Baustoff verwendet. Am Ende gibt Hanif noch ein wenig Sprachunterricht: „chirrin“ sind Kinder, „ribba“ bedeutet Fluss, „buckroo“ heißt, einen Bronco zuzureiten.
Apropos Muscheln: Einen sehr guten Ruf genießt das Restaurant The Fish Dock in Townsend am Fluss Sapelo. Die Muscheln, die der urige Betreiber „Captain“ Charlie Phillips hier auftischen lässt, werden gleich nebenan für den Verkauf verarbeitet, in Säcke gefüllt und bis nach Kanada exportiert.
In der Marschlandschaft bei Darien, wo wir danach beim Blue Heron Bed & Breakfast einkehren, hört man völlig unbekannte Vogelstimmen, Papstfinken und Kolibris schwirren um das Haus. Sie hätten viele Vogelbeobachter als Kunden, erklärt das Betreiber-Ehepaar Bill und Jan Chamberlain. Wie passt das mit den Katzen zusammen, die um unsere Beine schnurren? „Die Katzen fressen die Mäuse. Deshalb haben wir keine Schlangen. Schlangen sind nicht gut fürs Geschäft“, sagt Bill. Am nächsten Morgen fahren wir zur Insel Sapelo, einem Naturschutzgebiet. Faul liegen Alligatoren im Wasser. Als wir später zurückfahren, wird unser Boot von Delfinen begleitet.
Wilde Tiere, eine üppige Vegetation und eine interessante Geschichte – Georgia hat viel zu bieten. Dazu kommen noch die oft deftig gewürzten Rezepte der Südstaatenküche, Gastfreundschaft und eine bedeutende Musikszene. Früher standen die amerikanischen Südstaaten auch für Galanterie und gepflegte Manieren. Oliver Hardy („Dick und Doof“), ein Mann aus Georgia, hat das überzeugend verkörpert – wenn gerade nicht das Chaos in Form von Stan Laurel über ihn hereinbrach.
Gibt es den Southern Gentleman heute noch? „Junge Männer finden das wieder cool“, sagt Tourismus-Managerin Cheryl Hargrove. „Und Mädchen gefiel das immer gut.“ Aber man darf sich auch mal etwas wundern, wenn ihre Kollegin Leah ergänzt: „Ich bin jetzt 37 Jahre alt und habe zwei Kinder. Aber wenn ich meinen Vater etwas frage und der Satz nicht mit ,Sir‘ aufhört, antwortet er mir nicht.“
Volker Behrens
Der GLOBISTA-Autor arbeitet in der Kulturredaktion des Hamburger Abendblatt. Er liebt es, Reisereportagen zu schreiben, weil sich dabei Landeskunde, Geschichte, Politik und Kultur wunderbar miteinander verbinden lassen.