Allein reisen ist eine Erfahrung – und nicht unbedingt Urlaub. Hier ist der Weg das Ziel
„Mexiko-Stadt aus der Luft, besehen eine mit exotischen Bausteinen bestückte Platine, durchstoßen von den Kegeln der Vulkane wie von den Buchsen eines Plastikgehäuses. Und ich in dieser silbernen Maschine, die als Speerspitze einer Abgaslanze durch den Himmel stößt – wie unwahrscheinlich.“
Ich habe noch einmal in meinem alten Tagebuch nachgeschaut, und dies waren vor 20 Jahren die ersten Sätze, die ich aufschrieb, als ich nach einem Stopp in Mexiko in Guatemala gelandet war, als ich mich durch die warme, feuchte Wand der Schuhputzer und Bauernfänger hindurchgekämpft und mit meinem Volkshochschul-Spanisch den bunt gestreiften Bus gefunden hatte, der mich in die alte Kolonialstadt Antigua bringen würde. Ich war gerade 20 und hatte meiner Freundin „Es muss sein“ gesagt, um ein Jahr allein durch Lateinamerika zu reisen.
Es musste sein (und wir sind zusammengeblieben). Aber warum eigentlich? Was bewirkt eine Reise allein? Wie fühlt sie sich an?
Wie man aus meinem Tagebucheintrag herauslesen mag, versetzte mich die Reise in eine besondere Stimmung. Man mag sie romantisch nennen, so wie die Entscheidung für diese Reise. Ich hatte gerade „Unterwegs“ von Jack Kerouac gelesen und in Frankreich eine „echte“ Reisende kennengelernt, eine Kanadierin, die mir von Griechenland, der Türkei und Marokko berichtete. Ein Gedanke setzte sich in mir fest: Abenteuer ist möglich. Jeder kann es tun. Man muss es nur tun.
Aber ich wollte auch eine Welt kennenlernen, die anders ist, weil unsere nicht alles sein kann. Nach dem Relativitätsprinzip kann man nicht feststellen, wie schnell und wohin sich das eigene System bewegt, wenn man keinen äußeren Bezugspunkt hat. Einfacher gesagt: Man muss ausbrechen, um den Käfig zu sehen. Und vielleicht liest man auch dieses Bestreben um Distanz aus den ersten Sätzen heraus.
Dem einen Reisenden mag es um Sturm und Drang gehen, der anderen um Eat, Pray, Love. Aber immer hat das Reisen diesen Effekt: Es ermöglicht mehr Nähe, wenn man sich auf neue Freunde einlässt, und es schafft mehr Raumzeit, wenn man seine Umgebung beobachtet – oder sich selbst.
Allein reisen bringt dich mit dir selbst zusammen. Es konfrontiert dich mit dir selbst. Und es hört nicht auf. Die meisten Reisen unternehme ich schon lange mit meiner Partnerin, aber hin und wieder sind mal ein, zwei Wochen alleine drin, bevor sie nachkommt. Und jedes Mal ist es eine Überwindung. Aber jedesmal werde ich mit Veränderungen belohnt, mit neuen Freunden, Ideen und Fragen an mein eigenes Leben.
In Südamerika habe ich gelernt, auf andere Menschen zuzugehen. Allein zu sein, wird schnell anstrengend. Über Marokko hatte ich einige Jahre später viel Schlechtes gehört: Schlepper, Abzocker, Machos. Tatsächlich war ich in der labyrinthischen Altstadt von Fez gerade einem sehr aufdringlichen Möchtegern-Führer entwischt, als ich mich in einen Hinterhof verlief und ein Seemann mich zum Tee einlud. Ich hatte sehr viele solcher kleinen Begegnungen in Marokko, und jede schärfte mir erneut ein, dass man in der Situation urteilen soll und nicht vorher.
In einem Schlafsaal in Tasmanien lernte ich Ivo aus Hamburg kennen. Wir sind mit seinem Jeep getourt, haben Schach gespielt und philosophieren auch zwölf Jahre später noch beim australischem Wein. Zu zweit hätten Andrea und ich uns ein Doppelzimmer genommen.
Reisen ist auch furchtbar anstrengend: Immer wieder Hotels suchen, immer wieder neue Städte, dieselben Verabschiedungen. „Glück ist der Wunsch nach Wiederholung“ hat Milan Kundera mal geschrieben. Und damit sagt er keineswegs, dass die Wiederholung als solche tatsächlich Glück wäre. Eher gibt uns der Autor von „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ einen Hinweis, wie wir Glück erkennen können – wenn wir den Wunsch nach Wiederholung verspüren. Und dass wir ein Problem verspüren, wenn wir Routine rundweg ablehnen. Denn irgendwann wird es auch normal, neue Orte zu erkunden, neue Menschen kennenzulernen, allein hinauszugehen. Reisen als Flucht – das funktioniert nicht.
Aber vielleicht können wir unterwegs besser lernen, für Zufälle offen zu sein, spontaner auf Menschen zu reagieren, die Konzentration und Ruhe aufzubringen, für, ja, Weltbetrachtungen. Denn Heimat ist dort, wo deine Rollen definiert sind. Und unterwegs spielst du keine Rolle. Du kannst Neues proben. Denn egal, ob allein, zu zweit oder mit vielen: Reisen bedeutet, sich verändern zu lassen. Alles andere ist Urlaub.
Thomas Mader
Der GLOBISTA-Autor Thomas Mader packte vor dem Studium noch schnell seinen Rucksack und verschwand ein Jahr nach Lateinamerika. Rund 20 Jahre später arbeitet er als Journalist und reist noch immer gern und viel. Sein Geheimtipp: Äthiopien.