Blick auf die idyllische, grüne Lagunenlandschaft rund um Caorle Foto: Lutz Wendler
Im Rücken das Meer, um uns herum das Wasser der Lagune. Der Blick landeinwärts schweift über eine Landschaft, die so eben ist, dass sie in den azurblauen Himmel überzugehen scheint, der sich am Horizont in Wolken auflöst. Doch bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass der diffuse pastellblaue Saum in weiter Ferne nicht allein aus Wolken, sondern auch aus einer Gebirgskette besteht. Ein Panorama, das über mehr als 80 Kilometer von der adriatischen Küste bis hin zu den Voralpen reicht.
„Venetien ist die einzige Region in Italien, die alles hat: Meer, Seen, Wald, Felder, Hügel und Gebirge“, schwärmt Annalisa Greco. Die Leiterin der Touristen-Information von Caorle betont die Vielfalt ihrer Heimat. Sie weiß, dass die meisten Reisenden vor allem eines vom Veneto wahrnehmen: die Badeorte an der Adria, die seit den 1950er-Jahren zu bevorzugten Zielen sonnenhungriger deutscher Urlauber zählen.
Caorle mit 18 Kilometern Strand zwischen Duna Verde und Brussa an der Lagune erfüllt deren Erwartungen seit jeher. Die Gemeinde mit knapp 12.000 Einwohnern, die 167 Hotels mit 11.321 Betten sowie mehrere Campingplätze bietet, beherbergt mehr als 650.000 Gäste im Jahr. Sonne und kurze Wege zum Strand sind garantiert, ein Zimmer mit Aussicht aufs Meer ist fast schon Standard.
Caorle, 60 Kilometer östlich von Venedig und 120 Kilometer westlich von Triest gelegen, zählt zu den prominentesten Ferienorten an der venetischen Adria. Wer dabei an Massentourismus denkt, liegt richtig. Doch ebenso wahr ist, dass Caorle sich seinen Charakter bewahrt hat und dass die vielen Besucher, die noch spätabends durch die Straßen, engen Gassen und über die Plätze der Altstadt flanieren oder vor Restaurants sitzen, sich wie selbstverständlich in die freundliche Atmosphäre einfügen. „Caorle hat eine Seele“, sagt Annalisa. Und sie erzählt, dass die Gemeinde beginnt, auch mit dem Reichtum ihres Hinterlandes für sich zu werben. Touristen ermöglicht das eine Erweiterung ihres Horizonts.
Der Leiter des Naturschutzgebiets Vallevecchia hat einen Namen wie Musik: Francesco Fagotto. Er erklärt uns den Plan des 950 Hektar großen Gebiets, das am Rand des Ökosystems der Lagunenlandschaft angelegt wurde. Hier finden sich wie im Modell einer für Venetien typischen Küstenlandschaft unterschiedliche Biotope nebeneinander: Salz- und Süßwassersumpf, Strände mit Dünen, Pinienwälder und Agrarflächen für den Anbau alter Getreidesorten und die Rinderzucht. Das Ganze bildet ideale Habitate für große Artenvielfalt und Konzentration von Vögeln. Das Gebiet ist über Wander-, Rad- und Reitwege gut zugänglich.
Auf dem Weg zurück lockt die Trattoria Mazarack zum Einkehren. Das frühere Fischerhaus mit Bootsanleger bietet preiswerte regionale Kost wie die köstlichen Sarde in saor (mit Zwiebeln marinierte Sardinen), gebackenen Fisch und geschmorten Tintenfisch, der venetische Weißwein Lison passt ideal dazu.
Einige Hundert Meter weiter lädt B20 zur Verkostung ein. Überraschenderweise geht es dabei nicht um Wein, sondern um Bier. 2014 haben Gianluca Feruglio und Alla Chizzoli ihre Brauerei gegründet. B20 produziert 180.000 Liter im Jahr, sieben Biere sind im Sortiment, vom American Pale Ale („Edgard“) bis zum Pils („Gabi“). Dazu kommen saisonale Biere. Gianluca erzählt, dass er viel reist und sich von lokalen alten Sorten zu Neuinterpretationen anregen lässt. In der Birreria ist zu schmecken, dass Italiener nicht nur ein Näschen für Wein haben.
Erkundung zwei beginnt in der Lagune beim Casone von Sandro Bozza. Die Casoni sind ehemalige Fischerhütten aus Schilfrohr mit hohem Dach, ein jedes ist individuell gebaut. Einst Refugium für arme Fischerfamilien, sind die noch existierenden 83 heute begehrte private Wochenenddomizile. Sandros Casone hat einen Anleger, von dem aus wir zur Bootstour mit Mario Biancon ablegen. Auf der Fahrt durch die Lagune sehen wir in der Ferne das Haus, in dem Ernest Hemingway vor 70 Jahren zu Gast war. Die Entenjagd in der Lagune inspirierte ihn zu Szenen in seinem Roman „Über den Fluss und in die Wälder“. Anschließend gibt es ein reichhaltiges Menü im Garten der Bozzas, und wir lernen den Fischreichtum der Gewässer kennen.
Unser nächster Ausflug informiert über die landwirtschaftliche Entwicklung der Region, die auch eine Sozial¬geschichte der adriatischen Küste ist. Auf dem 160-Hektar-Gut La Fagiana wird Reis in bester Risotto-Qualität angebaut, vor allem die Sorte Carnaroli. Auf der Rundfahrt erzählt Gutsverwalter Eugenio Conte, dass die Reiskultur hier früher zu personalintensiv und nicht profitabel war.
Die Trockenlegung der küstennahen Sumpfgebiete und der Bau eines vom Fluss Livenza abzweigenden Kanals, der das kontrollierte Fluten der Felder ermöglichte, waren Voraussetzungen für ökonomischen Anbau. 1960 wurde das Gut wieder eröffnet. Entscheidend waren schließlich Maschinen, die menschliche Arbeitskräfte fast vollständig ersetzten. Heute produzieren vier Mitarbeiter 180 Tonnen Reis pro Jahr. Einklang mit der Natur und Biodiversität werden angestrebt. Ergebnis ist eine venetische Ideallandschaft mit Pappelalleen und weiten Feldern. Am Horizont tauchen schemenhaft die Voralpen auf. Ab und zu kreuzt ein Fasan (Fagiano) den Weg.
Ein Meilenstein für die Verbesserung der Lebensbedingungen war die Trockenlegung von 1923 bis 1960. Bis dahin war Landarbeit ein Knochenjob, der die Familien kaum ernährte, und die Menschen wurden durch Malaria in den Feuchtgebieten geplagt. Folgen waren Landflucht und Auswanderung vieler Italiener nach Südamerika. Diese Entwicklung wollte ein Direktor der Generali-Versicherung in Triest stoppen, als er Mitte des 19. Jahrhunderts das Mustergut Ca’ Corniani gründete.
Nach dem Bau eines Kanals wurden 1770 Hektar Agrarland gewonnen und eine Gutsanlage mit eigener Infrastruktur (Schule, Postamt, Theater) gebaut, die bis zu 2500 Menschen ernährte und beherbergte. Es lohnt sich, die imposante Anlage zu besichtigen, die sichtlich in die Jahre gekommen ist und der Finanzkraft eines Konzerns bedarf, um erhalten zu werden.
Bewirtschaftet wird das Ganze noch immer von der Genagricola. Es sollen auch Handwerksbetriebe in den alten Gebäuden angesiedelt werden. 30 Kilometer neue Radwege ermöglichen, dass auch Touristen das Gut erkunden können. Publikumsmagnet ist der stilvoll restaurierte Keller von 1875, in dem man Genagricola-Weine verkosten kann. Enoteca-Chef Fabrizio Tonon empfiehlt uns einen preiswerten, aromatischen Rosso, den Refosco von Sant’Anna.
Zurück in Caorle. Durch die Altstadt führt uns Annalisa Greco, vorbei am 1038 geweihten Dom mit Campanile, dem markanten, frei stehenden Glockenturm. Das Städtchen mit bunten Fassaden ist pittoresk, die Auswahl an Restaurants und Eiscafés erstaunlich groß. Die vielen Gässchen erinnern daran, dass Caorle einst ein kleines Venedig war. Doch die engen Kanäle versandeten und wurden trockengelegt. Sehenswert ist auch der an die Altstadt grenzende Hafen, der über einen Umweg zum adriatischen Meer führt.
Zwischen der Mündung der Livenza im Westen und Porto di Falconera am Eingang zur Lagune im Osten erstreckt sich die fünf Kilometer lange Prome¬nade. Zwischen zwei Stadtstränden führt sie über einen mit weißen Kalksteinen aufgeschütteten Damm, vorbei an der Wallfahrtskirche Madonna dell’Angelo. Seit 1993 werden die Felsbrocken in Wettbewerben von Bildhauern gestaltet, ein „common Work in Progress“. Der 1,8 Kilometer lange Weststrand Spiaggia Ponente und der 2,7 Kilometer lange Oststrand Spiaggia Levante sind gesäumt von maximal vierstöckigen Hotels. In Reih und Glied stehen bunte Sonnenschirme und Liegen für die Badegäste im Sand. Hier ist der Ursprung von Caorles Wohlstand.
Fernando Bortolussi (64) erzählt im Restaurant Da Duilio seines Viersternehotels Aqapalace, wie er die Entwicklung erlebte. Seine Familie war wegen schlechter Perspektiven nach Venezuela ausgewandert, aber seine Eltern kamen 1957 zurück nach Caorle und eröffneten eine Trattoria mit 20 Plätzen. „1959 begann der Tourismus. Es gab keine Infrastruktur, nur zwei Pensionen. Die Leute vermieteten Platz in ihren Wohnungen, abgetrennt durch Vorhänge.“ Herberge und Gastronomie der Familie Bortolussi wuchsen von Anbau zu Anbau. Heute ist das Elternhäuschen am prächtigen Pool des 60-Zimmer-Hotels ein liebevoll gepflegtes Relikt. Fernando Bortolussi weiß, woher er kommt. Deshalb ist es besonders relevant, wenn er sagt: „Caorle hat noch großes Potenzial.“
Es ist nicht weit nach Venedig. Ausflüge in die berühmte Lagunenstadt sind mit der Motorboot-Linie (zwei Stunden) ganz bequem möglich. Infos z. B. unter www.motonavecaorle.com, bei Casone Bootstour, www.motonavearcobaleno.com, oder bei La Fagiana, www.lafagiana.com.
Allgemeine Auskünfte findest du unter www.caorle.eu.
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Lutz Wendler
Der GLOBISTA-Autor ist in Hamburg zu Hause, von wo aus es ihn immer wieder in die Welt hinauszieht. Italien, Schweden, Kroatien ... - er liebt Europa und all die Geschichten, die sich in jedem der einzigartigen Länder finden lassen.